Frohe Weihnachten, ihr Lieben!
Ich hoffe, ihr könnt das Fest mit euren Lieben genießen und findet etwas Ruhe in der hastigen Zeit.
Als kleine Weihnachtsüberraschung hab ich in den letzten Tagen eine kleine Geschichte geschrieben, die ihr heute und an den kommenden Weihnachtstagen in insgesamt drei Teilen lesen könnt. Ich möchte euch mitnehmen in die "Traumfabrik" - in eine Erzählung, die die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen lässt.
Viel Freude damit :-)
Die Traumfabrik
"TRAUMFABRIK", prankt in großen rot-goldenen Lettern über dem Eingangstor der alten Lagerhalle. "Wir öffnen Ihre Augen!"
Unschlüssig blickt sie auf den Gutschein in ihren Händen. Ein Geburtstagsgeschenk zum Achtzehnten; ein Ich-hab-dich-nicht-komplett-vergessen von einem entfernten Großonkel, an den sich nicht einmal ihre Eltern mehr wirklich erinnern können. Für eine Stunde in der "Traumfabrik". Einem Unternehmen, von dem es im Internet nicht mehr gibt, als einen kleinen Hinweis auf Google Maps und einigen "Ich war hier"-Erwähnungen auf Facebook. Inklusive schwärmerisch-nichtssagenden Kommentaren.
Sie weiß nicht, warum sie hierher gekommen ist. Eigentlich ist ihr das Ganze suspekt, seit sie den Brief ihres Großonkels bekommen hat. Eigentlich hält sie das alles für einen einzigen großen Schwachsinn. Und eigentlich ist sie überhaupt nicht der Typ für ominöse Unternehmen, die sich dort befinden, wo andere ihre Waren lagern, und von denen keiner in ihrem Umfeld jemals etwas gehört hat. Eigentlich.
Dennoch steht sie hier. Inmitten riesiger Lagerhallen, eine grauer als die andere, alle mit einer einzelnen Nummer versehen. Bis auf diese eine mit dem rot-goldenen Schriftzug, der seine Andersartigkeit geradezu in die eintönige Lagerhallenwelt hinauszuschreien scheint. Sie hat keine Ahnung, was sie erwartet. Dennoch kann sie ihre Neugier nicht leugnen. Ihr Großonkel schrieb etwas von "fantastischen neuen Erfahrungen" und "Enspannung" und "einfach mal den kühnsten Träumen folgen". Woher auch immer er die "Traumfabrik" kennt, wenn nicht einmal sie, die sie die gesamten achtzehn Jahre ihres bisherigen Lebens in dieser Stadt verbracht hat, ihre Existenz auch nur im Entferntesten geahnt hat.
Feucht-kalter Winterwind umweht sie und sie zieht ihre Jacke enger, auch wenn das kaum etwas nützt. Sie atmet tief ein - und muss niesen, als sich die Luft mit eisig kalten Dornen in ihre Nase bohrt. Ein letztes Mal sucht sie vergeblich nach Wegweisern oder Werbeschildern oder einem Briefkasten, nach all den Dingen, die normalerweise auf ein Unternehmen hinweisen. Wieder bleibt ihr nur der rot-goldene Text. "Wir öffnen Ihre Augen."
Noch immer nicht ganz überzeugt, geht sie zum Eingang - eine kleine, unscheinbare Tür inmitten des riesigen Hallentors. Es gibt weder Namensschild noch Klingel, also klopft sie. Einmal. Zweimal. Die blechernen Schläge hallen unangenehm laut in ihren Ohren nach. Dennoch bleibt die Tür geschlossen. Als sich auch beim dritten Klopfen nichts regt, greift sie seufzend nach der Türklinke und drückt sie hinunter. Mit leisem Knarren - viel leiser, als sie erwartet hat - schwingt die Tür nach innen auf.
Und sie tritt mitten hinein in die klarste Sommernacht.
Ohne den Blick vom Sternenhimmel - der Hallendecke, ruft sie sich in Erinnerung - abzuwenden, schließt sie hinter sich die Tür. Wohlige Wärme umfängt sie und sie öffnet ihre Jacke. Die sie einhüllende Dunkelheit ist nicht so finster, wie sie erwartet hat. Unzählige kleine und größere Sterne funkeln auf dem dunklen Grund, der Himmel sein soll. Täuschend echte Sterne, die sicher nicht mehr als technische Spielerei sind.
Mit einem "Klick" schaltet sich vor ihr eine Lampe ein. Sanftes warmes Licht ergießt sich über einen dunklen Schreibtisch voller kleiner Ablagefächer und bunten Stiften. Der Lichtkreis hüllt kaum mehr als den Tisch und den dahinter stehenden Stuhl ein. Und die Person, die sich langsam aus den Schatten schält. Eine junge rothaarige Frau mit breitem Lächeln und leuchtend grünen Augen.
"Einen wunderschönen guten Tag - und eine bezaubernde Nacht!" Ihre Stimme hallt leicht in den Weiten der Halle wider, von denen sie nicht mehr als den Tisch und die Sterne sehen kann.
Sie erwidert das Lächeln unsicher und hebt die Hand mit dem Gutschein. "Ich... hab einen Gutschein geschenkt bekommen... für die Traumfabrik...?" Ungewollt klingen ihre Worte leiser und mehr nach Frage, als sie beabsichtigt hat. Der Ort erscheint ihr unwirklich. Für einen Augenblick ertappt sie sich bei der Frage, ob ihre Entscheidung, hierher zu kommen, tatsächlich so gut war. Sie schiebt sie beiseite, ohne eine Antwort zu finden.
"Wundervoll!" Die Rothaarige nickt und kommt hinter dem Schreibtisch hervor. "Darf ich einmal sehen?" Sie nimmt den Gutschein aus ihren vom Winterwind kalten Händen und klappt die kleine Karte auf. "Ah, ja, eine Stunde Traumfabrik... Haben Sie einen Wunsch?"
"Wunsch?", entgegnet sie verständnislos und runzelt die Stirn. Sie hat viele Wünsche; vom Auto für den Führerschein, den sie demnächst machen wird, über den Urlaub nach ihrem Schulabschluss bis zur eigenen Wohnung nahe der Uni, die sie erst noch auswählen - und von der sie ausgewählt werden - muss, ist so einiges dabei. Nichts davon erscheint ihr nun passend zu sagen.
"Wir haben die Traumfänger-Koje, das Sternenstaub-Zimmer und die Wunderhöhle", erklärt die Frau in beschwingtem Ton. "Wohin möchten Sie?"
Sie fühlt sich nicht aufgeklärter als vorher. "Macht es einen Unterschied?"
Die Rothaarige zuckt mit den Schultern und nimmt den Gutschein mit sich hinter den Schreibtisch. "Manchmal tut es das. Manchmal auch nicht. Es ist Ihre Entscheidung."
Sie weiß immer noch nicht, worauf sie sich einlässt. Ihr Blick huscht hinauf zu den funkelnden Sternen und wahllos erwidert sie: "Sternenstaub."
Teil 2 »
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